Noch 66,5 km bis Santiago. Irre!
Mittlerweile sind alle auf dem Weg in ihrer Gefühlsachterbahn.
Die alte Italienerin, die seit León auf dem Radar ist, ziemlich arrogant und überheblich wirkt, steht heute Morgen um 6:00 Uhr im Café. Sie tanzt, reißt die Arme hoch und lässt jeden wissen, dass wir nur noch drei Tage bis Santiago haben. Wahnsinn. Anfangs kam sie so überheblich und arrogant rüber, hat nicht einmal gegrüßt. Heute fällt sie jedem in die Arme. Ich revidiere meine Meinung über sie und freue mich, dass sie hier steht und tanzt, als wäre ihr gerade eine Maus ins Hosenbein gekrochen. Alle im Café schauen Sie mit großen, rollenden Augen an. Sie, mit ihrem quietschgelben Regenponcho, die einst unsympathische Frau, heute gefühlt drei Jahre alt.
Aus dem Café raus, kommt mir in Begleitung des Mondscheins Margo entgegen. Sie kann die gelben Pfeile nicht finden und fragt, ob wir die ersten Kilometer zusammen gehen können, bis sie wieder „auf dem Weg“ ist. Margo ist eine tolle, sympathische, ruhige, sehr auf ihre Wortwahl, bedachte Vancouver-Kanadierin mit einem kleinen Sommerhaus am Meer, die sich nach einer Herz-OP vor drei Jahren von ihrem Mann getrennt hat / so dicht liegt das Physische mit dem Emotionalen zusammen... Sie berichtet von ihrem bisherigen Leben, wie sehr sie die Welt bereist, an großen Fahrradrennen teilgenommen hat. Jetzt ist es für sie an der Zeit, es ruhiger werden zu lassen. Der Tod ist mittlerweile präsenter in ihrem Leben - auch die Freunde sterben, sagt sie. Wir haben ein ähnliches Tempo und es ist angenehm neben ihr zu gehen; sie hat einen Stein im Schuh; zwischen den Zeilen lesen kann ich gut. Ich wünsche ihr einen tollen Weg und gehe weiter.
Gefühlt sind ab hier alle emotional unterwegs. Wir sind in der fünften Woche auf dem Jakobsweg und alle haben den „deep dive“. Heute werden wir die 50 km vor Santiago unterschreiten und auch bei mir kullern , seit meinem gestrigen Besuch in der Kirche von Palas de Rei ad-hoc aus dem Nichts kommend, die Tränen - sämtliche vorhandenen Emotionen fahren Achterbahn:
- Stolz, noch immer hier auf dem Weg zu sein
- Dankbarkeit für alles und jeden, der mich, von wo aus auch immer, in welcher Art und Weise auch immer, unterstützt hat
- Dankbarkeit, überhaupt hier zu sein.
- Traurigkeit, weil ich viele Gesichter meiner Camino-Familie nicht mehr in Santiago sehen werde.
- Freude, viele andere Gesichter in Santiago wiederzusehen
- Freude, anzukommen, auf dem großen Platz vor der Kathedrale
- Freude, bald zwei Ruhetage zu haben und einfach in den Tag hineinzuleben, ohne sich früh morgens im Dunkeln aus dem Schlafsaal schleichen zu müssen.
- Freude, bald von meinem Mann hier in Santiago abgeholt zu werden
- Freude, so viele tolle Nachrichten, von den unglaublich tollen Menschen, die ich auf dem Weg kennenlernen durfte bekommen zu haben
- Rührung, weil einige zu Hause so stolz sind auf mich, obwohl ich hier eigentlich „nur rumlaufe“, gut frühstücke und schlecht schlafe ;)
Aber Achterbahn beiseite!
Eine der letzten Etappen führt von Palas de Rei über Leboreiro. Eine spätromanische Kirche sowie ein altes Pilgerhospiz, an dem noch das Wappen der Gründerfamilie aus dem zwölften Jahrhundert prangt, zählen zu den Sehenswürdigkeiten in diesem Ort.
Zu lange genieße ich hier bei aufgehender Sonne auf der Wiese mein zweites Frühstück… laut kündigen sich die italienischen Grüppchen mit ihren schnellen, flinken Schritten an. Welch ein falscher Film. In vier/fünf Tagen rennen die telefonierend, laute Musik hörend, laut redend, schon fast schreibend, die letzten 100km runter, um die, nach all den Qualen des hinterlegten Weges, so heiss ersehnte „Compostela“ zu erlangen - mit Gedankenhygiene, Kopfhörern und Wegsehen geht’s wieder.
Der weitere Weg führt über Furelos nach Melide. Hier gibt es eine sehr beliebte Gaststätte, die Pulpería Ezequiel. Wer hier einkehrt, sollte unbedingt das Hauptgericht „Pulpo á feira“ bestellen, Tintenfisch, der mit Brot und Federweißer serviert wird, heißt es - ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, auch nur ein Stück Oktopus in den Mund zu nehmen.
Ich biege um die Ecke und -schwups- das geöffnete Fenster der Pulperia: Der Koch redet ohne Punkt und Komma auf spanisch auf mich ein und zerschneidet mit einer Schere den warmen, auf dem Tisch liegenden Pulpo - und während ich inhaltlich noch am übersetzen bin, hat er mir ein Stück gekochten Pulpo aus seiner „Pulposuppe“ in die Hand gelegt :O . Er möchte, dass ich koste und mich dann auf einen Teller Pulpo ins Lokal setze…
Der Polpo riecht nach gekochtem Hühnchen, eigentlich ganz gut, hat aber einen gewissen Eigengeruch. Dankend lehne ich ab, gehe meiner Wege, den langsam in meiner Hand kalt werdenden Pulpo in den Müll entsorgend - sorry, an alle Feinschmecker!
Die dem Apostel Jakob geweihte Iglesia de Santiago Apostol steht in Boente, dem nächsten Ort auf der Etappe. Gelegenheit für eine kurze Pause bietet der restaurierte Saleta-Brunnen mit Wegkreuz, bevor es weiter nach Castañeda geht.
Castañeda gilt als der Ort, in dessen Öfen der Kalk für die Kathedrale in Santiago de Compostela gebrannt wurde. Die Steine wurden gute hundert Kilometer zuvor von Pilgern transportiert, die diese aus dem Steinbruch bei Triacastela mitbrachten.
Die letzte Hälfte der Etappe gehe ich durch Eukalyptuswälder, die im August unglaublich aromatisch riechen sollen, jetzt aber schon ein unglaublich tolles Aroma versprühen.
Letzter Ort dieser Etappe ist Ribadiso de Baixo, deutlich zu spät nach mehreren kleinen und größeren Pausen, um mich von den lauten Gruppen auf dem Weg abzusetzen, und mittäglichen 30° komme ich, die fiesen Höhenmeter zum Ende der Etappe hin nicht auf dem Schirm habend, fix und fertig an.
Die letzten Monolithen zeigen 42 km an; im Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ ist „42“ die von einem Supercomputer errechnete Antwort auf die „endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ - eben die Antwort auf alles ;)







































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